Gustav Mahlers Vermächtnis an Alma Mahler – Die Zehnte Symphonie im Lichte des Krisensommers 1910

Am 5. Juli 1910 schrieb an seine Frau nach Tobelbad: „Also die munteren Landbewohner sind wieder all[e] vereint. […] Ich zweifle gar nicht daran, daß sie mir demnächst auch in mein Waldhäuschen folgen werden, wenn ich dorthin ziehe“ ( Nr. 317, S. 436; vgl. Nr. 317, S. 367). Einen Tag zuvor hatte er den Trenkerhof in Altschluderbach bei Toblach bezogen (, S. 35, Anm. 70). Im nahegelegenen Komponierhäuschen, wo er in den beiden zurückliegenden Jahren und seine entworfen hatte, strebte der Komponist nun seine an. Diese blieb trotz eines horizontal vollständig ausgearbeiteten fünfsätzigen Torsos von knapp 2.000 Takten und 80 Minuten in ihrer vertikalen Ausarbeitung unvollendet.

Am 16. Juli 1910 oder am darauffolgenden Tag traf auch in Altschluderbach ein (vgl. AM3 vom 18. Juli 1910 und einen Brief von an vom 14. Juli 1910, Nr. 322, S. 372). Anwesenheit bescherte in seinem Schaffen Antriebskraft. So markierte ihr Ankunftstag wahrscheinlich auch den Startschuss für die Arbeiten an der neuen Symphonie von . Zuvor hatten diesen anderweitige Angelegenheiten beschäftigt (, S. 36f.), insbesondere Vorbereitungen zur nächsten New Yorker Konzertsaison „zwischen dem 9. und 15. Juli“ (, S. 37f.). Dennoch ist es nicht auszuschließen, dass bereits vor Ankunft in Toblach an der gearbeitet hatte, bis er am 29. Juli vorerst die Schreibfeder niederlegte. An diesem Tag empfing einen wahrscheinlich aus dem Entwurf WG22 vom 27. oder 28. Juli hervorgegangen Brief von , der eine Ehekrise auslöste. Bis zu einem Krisentreffen zu dritt am 5. August unterbrach der emotional angegriffene die Arbeiten an seiner , bereitete aber die Uraufführung seiner weiterhin vor (, S. 41). Seine entschied sich schließlich, bei ihm zu bleiben. Von den Gefühlsregungen ihres berührt, versuchte sie ihre Entscheidung bald darauf in einem Brief vom 11. August zu erklären: Endlich habe ich es ihm versprochen und er sagte, ich habe ihm damit das Leben gerettet (AM17) – und damit auch die Arbeiten an seiner beflügelt. Eine Mitteilung von an erweckt zudem den Eindruck, dass diese nach dem Krisentreffen ihren zum Gang in das Arbeitshäuschen motivierte (, S. 43, Anm. 118). Einen Anreiz hierzu wiederum gab aber zuvor wahrscheinlich , der während seiner Abreise von Toblach am 6. August oder bereits in Neubabelsberg am darauffolgenden Tag in einem Briefentwurf an schrieb: Versuche[,] daß er wieder arbeitet[,] solche Zeiten schaffen oft die größten Kunstwerke (WG38). Jedenfalls berichtete sie ihm bereits am 8. August freudig von der Ankunft ihrer, von geschätzten Mutter, (sie ist gestern gekommen und alles wurde wieder frisch und herzzerreißend), und davon, dass wieder in sein kleines Arbeitshaus gegangen sei (AM14). Erinnerungen und kurze innige Mitteilungen, die seiner Frau in diesen Tagen vor seinem Gang ins Arbeitshäuschen schrieb, zeugen gleichwohl von einer Angst vor dem Verlust der Gattin (, S. 42f.). Diese versuchte er dadurch zu überwinden, dass er am 9. August erstmals bat, ihm ihre in der Adoleszenz komponierten Lieder vorzuspielen (AM16 vom 10. August), die er vor der Eheschließung nicht zur Kenntnis genommen hatte. Ein „Komponierverbot“ (, S. 112) hatte das kreative Potential im Keim erstickt. Das „papierne“ Leben […] verlassend, so berichtete seine Frau, wollte die Arbeiten an seinem eigenen Werk alsbald hinten anstellen: nur für mich leben wollend […] obwohl er gerade jetzt eine ganze Symphonie gemacht hat – mit allen Schrecken dieser Zeit drin (AM19; vgl. : , Mus. Hs. 41.000/5, fol. 10r). Das Particell seiner hatte also zum Zeitpunkt dieser Worte, am 14. August, „bis zu einem gewissen Grade fertig gestellt“ (, S. 44). bekundete sodann gegenüber seine Neugier auf G.s neue Symphonie (WG46 vom 15. oder 16. August 1910). Der Komponist war jedoch auch noch am 17. August in seinem Komponierhäuschen tätig (, S. 44f.). Als Liebesbeweis ließ er dort Motive aus sogenanntem „“ in den dritten und letzten Satz seiner einfließen () und gewährte im Neuntonklang (erster und letzter Satz) ungehemmte Einblicke in seinen Seelenzustand (, sowie und , dort jeweils S. 25–31). Völlig wurst, wie in AM22 vom 19. August schrieb, war ihm seine ganze Produktion also nicht. Wegen einer Angina-Erkrankung am 22. August (AM24 vom 23. August), von der sich jedoch rasch wieder erholte (AM25 vom 24. August), und eines Besuches beim Psychoanalytiker , der ihm seine Mitschuld an der Ehekrise erläuterte, jedoch zugleich sein Gewissen beruhigte (, S. 47–49), musste die Arbeiten an der bis zu seiner Heimreise nach Toblach am 27. August unterbrechen. Ehe er am 3. September nach München zu den Proben für die Uraufführung der fuhr, könnte er noch allerletzte Arbeiten an den Entwürfen zur erledigt haben (, S. 50). Es finden sich weiterhin keine Belege dafür, dass sich in München und auf der Reise in die USA am 18. Oktober sowie während seiner New Yorker Konzertsaison noch einmal mit seiner letzten Komposition beschäftigt hat. Auch trieb diese Frage um: Deine Musik. u G’s. hat er noch an der neuen Symphonie gearbeitet? (WG103 vom 17. November).

Erst am Todestag , am 18. Mai 1911, geriet dessen letztes Werk ins öffentliche Rampenlicht, als die Neue Musik-Zeitung die folgende Notiz abdruckte: „ hat testamentarisch verfügt, daß seine Frau die vorhandenen Skizzen und Entwürfe zu einer zu vernichten habe. Diesem Wunsch des Verstorbenen ist bereits entsprochen worden“ (zit. n. , S. 16; siehe auch , S. 16–28 sowie , S. 205f.). fühlte sich spätestens im Juli 1911 schlagartig in die Entstehungszeit der zurückversetzt, als ihn wahrscheinlich eine ähnlich lautende Zeitungsnotiz erreichte, zugleich erschütterte und nachfragen ließ: Ist es die Symphonie des vorigen Jahres?? (WG163 vom spätestens 7. oder 8. Juli 1911; vgl. beispielsweise eine der obigen Notiz inhaltlich gleichende Nachricht in , S. 7). In Testament ist jedoch von keinem derartigen letzten Willen die Rede und auch widersprach in ihrer Antwort vom 9. Juli den Presseberichten: Ja – mein Herz – diese Symphonie – die ich vernichten soll – ich habe es noch nicht gethan. Nicht einmal gewagt – sie anzuschauen[.] – Ich werde sie nicht vernichten, wohl aber verfügen, dass sie bei \nach/ meinem Tode vernichtet werde (AM80; vgl. auch , S. 16 und , S. 205).

wollte das Manuskript der tatsächlich erst im Dezember 1911 gesichtet haben (, S. 49; vgl. die im Wortlaut beinahe identische, jedoch mit „9. Dezember 1911 – Wien“ präziser datierte Fassung in einer unveröffentlichten Vorversion namens Der Schimmernde Weg, , Ms. Coll. 575, Box 33, hschr. pag. 37). In den englischsprachigen Memoiren (, S. 70) heißt es dagegen, dass die Noten der im Dezember 1911 „once again“ gelesen hätte. Es ist also gut möglich und sogar wahrscheinlich, dass bereits im Juni oder Juli 1911 in die Kassette mit den Skizzen geschaut hatte. So erwähnte in der gesamten Korrespondenz mit nur einmal und ausgerechnet kurze Zeit nach Tod den Namen eines bedeutenden italienischen Dichters und Philosophen, auf dessen im dritten Satz der (Purgatorio; : , Mus. Hs. 41.000/3, fol. 3r) Bezug genommen wurde, wiederum eng verwoben mit Motiven aus sogenanntem „“ (, S. 153–162, und , jeweils S. 25–27): Hast Du mit Ruhe Dante gelesen (WG158 vom 4. oder 5. Juli 1911). Sich der großen Bedeutung der für Leben als Komponistin und Ehefrau bewusst, reagierte jedenfalls entsprechend rücksichtsvoll auf deren Entschluss, die Skizzen der nicht vernichten zu wollen: 10. Symph. Ja – ich verstehe – was muß das alles für Dich sein (WG166 vom 11. Juli 1911). hatte seiner Frau in das Manuskript geschrieben: „Du allein weisst, was es bedeutet. […] Leb’ wol mein Saitenspiel!“ (, S. 182; : , Mus. Hs. 41.000/4, fol. 11r). Doch selbst die Zeit nach Tod bis heute sollte dieses Vermächtnis überleben – von ihr verschiedentlich faksimiliert, zur Aufführung in Bearbeitung gegeben, publiziert, zurückgerufen, im Original in ihrem Musikzimmer ausgestellt und partiell verschenkt – das ursprüngliche Manuskript erscheint lediglich um eine halbe Titelseite beschnitten, die wahrscheinlich eine allzu persönliche oder konkrete Anspielung auf die Dreieckskonstellation enthielt (zur Rezeption siehe , S. 205–298).

A

Abb.: Gustav Mahler, Zehnte Symphonie, Particell, 5. Satz: Finale (Ausschnitt), verbale Annotationen: „für dich leben! für dich sterben!“, „Almschi!“ (1910).

B

Abb.: Gustav Mahler, Zehnte Symphonie, Particell, 3. Satz: Purgatorio (Ausschnitt), verbale Annotationen: „Erbarmen!!“, „O Gott! O Gott! Warum hast du mich verlassen?“, „Dein Wille geschehe!!“ (1910).

C

Abb.: Gustav Mahler, Zehnte Symphonie, Particell, 4. Satz: [Scherzo] (Ausschnitt), verbale Annotationen: „Du allein weisst was es bedeutet. Ach! Ach! Ach! Leb’ wol mein Saitenspiel! Leb wol Leb wol Leb wol Ach wol Ach Ach.“ (1910).